Die letzte Nacht war wirklich anstrengend. Jemand hatte den Kasettenrekorder auf dem Spielplatz unterm Fenster stehen lassen. Musik droehnt aus den Megaphonen und bringt die seidenen Gardinen zum Schwingen, waehrend die festeren Uebervorhaenge zum Beat tanzen.

Ist spaetestens um 23:59:59 vorbei! Ich schlaf schon mal los. Leider nein. Der anonyme DJ allerdings konnte anscheinend gut schlafen. Er bemerkt naemlich nicht, dass gar kein Publikum da ist. Zu meinem Verdruss wird alle 30 Minuten kurz STOPP gedrueckt. Wahrscheinlich Pinkelpause. Danach geht’s munter weiter. Schlafen im Accord.


Um 01:00 ist dann aber Schluss. Bestimmt doch spaetestens jetzt, um 02:00, oder? Die pure Erschoepfung zwingt mich in den Daemmerschlaf. 03:01. Ich schrecke hoch. Es ist Ruhe. Herrlich.


Fehlalarm. Das war die Pinkelpause. Es geht weiter. Um 06:41 halte ich es nicht mehr aus und beschliesse, vorzeitig aufzustehen. Heute nutze ich den zeitlichen Vorsprung und ueberrasche Mutti. Wir sind fuer 07:30 am Fruehstuecks-Buffet verabredet.


07:27 habe ich meine Mopete ordnungsgemaess nach DIN gepackt und alle Gepaeckstuecke verzurrt. 07:28 funkt Mutti mich an und fragt, wie weit ich denn waere. „Ich bin schon da.“ Von der Verpackung erzaehle ich vorerst noch nix. Soll ja ne Ueberraschung werden.



07:29 marschiere ich in Richtung Speisesaal. Mutti kommt, entgegen der Kleiderordnung, schon in Verkleidung (MoFa Hose und Stuetzstruempfe). Menschenmassen stroemen uns entgegen, als wuerde es irgendwo brennen. 07:30 Der Speisesaal ist nahezu leer. Nur noch ein paar Renter sind da, die nicht mit der Masse der Fluechtenden Schritt halten konnten.

Das Buffet ist zerstoert. Lebensmittel nur noch gegen Bares. Aber das ist ja auch kein Wunder, fing doch das Fruehstueck schon um 07:00 an. Was hatte ich erwartet?
 Ich klaube ein paar Reste zusammen, die heruntergefallen waren oder hinter der Kaffemaschine und dem Samowar uebersehen wurden. Mutti findet irgendwo noch zwei hart gekochte Eier, wahrscheinlich von Ostern. Einen anderen Schluss laesst die Farbe des Eigelbs nicht zu. Stumpfsinnig vor uns hinstarrend kauen wir auf unserer Beute herum.

Als ich Mutti erzaehle, dass ich schon fertig gepackt habe, huscht ein kurzes Laecheln ueber ihr von Sorgenfalten zerfurchtes Gesicht. Trotz der besorgniserregenden Situation. Bewundernswert! Fuer einen sehr kurzen Augenblick sieht sie zwei Tage juenger aus. Wir stapfen schweigend auf unsere Zimmer, Mohnkruemel zwischen den Zaehnen.


Aber nicht verzagen, der Tag verspricht, blendend zu werden. Mutti hat hoch und heilig versprochen, dass wir tolles Wetter haben wuerden. Nur ein bisschen kalt. Und vielleicht ein oder zwei Schauer.

Es geht los. „Links sehen Sie den Fichtelberg“ toent es aus den Lautsprechern des Intercom. Bei Sichtbedingungen unterhalb von CATIII sehe ich wenig weiter als bis zum Strassengraben. Mutti schwoert, dass sie von ihrer letzten Tour noch ein Foto davon hat.

Nach zwei Stunden Fahrt haben wir den ersten Schauer hinter uns gelassen. Leider sind wir schon im Regen losgefahren. Zum Glueck ist’s nicht kalt. Wir haben immerhin 5 Grad, bis zu 9,5 in der Spitze.


Ich bin drauf und dran, mich zu beschweren. Im Reiseprospekt war von flexibler Routenplanung und schoenstem Sommerwetter die Rede.

Gegen 11:00 stuermt Mutti ein Caffee, um gute Laune und Waerme zu tanken.

 Ich brauche noch etwas Zeit, weil ich das Wasser aus meinen Stiefeln ablassen muss.

Wer genau hinschaut, wird erkennen, dass die Kaffetassen am Tresen auf dem Kopf haengen. Trotzdem versucht Mutti, den Kaffee dort einzugiessen. Die leer gemachten Kannen haengt sie gedankenversunken ueberall hin, wo gerade Platz ist. Als ich sie darauf aufmerksam mache, ist es schon zu spaet. Der Kaffee ist alle. Tee ist auch gut. Die Rechnung uebernimmt die Versicherung.

Weiter geht‘s. Rechts, links, Berg hoch, Berg runter. Ein Radfahrer, den wir gerade noch ueberholt haben, kann mit der Situation nicht umgehen. Im Spiegel sehe ich, wie er bergab immer naeher kommt. Die Augen blutunterlaufen, der Helm weggeweht, Schaum vor dem Mund, rote Flecken im Gesicht. Die Flecken koennten allerdings von dem Split kommen, den wir ihm bestaendig ins Gesicht schleudern, wenn er sich unter dem Druck der Reifen auf dem Weg in eine erdnahe Umlaufbahn macht.

Egal, ich bekomme es mit der Angst zu tun. „Mutti, fahr doch schneller!“ Mein Spiegel ist nicht gross genug. Ich sehe nur noch ein Auge des Radfahrers darin. Meine Angst ist begruendet. Ich hoere sein Schnaufen und spuere seinen heissen Atem, unter meiner Taucherglocke.

Ich zeige Mutti eine Abkuerzung. Mutti biegt rechts ab. Ich auch. Der Verfolger schafft die Kurve nicht. Wir sind gerettet. Pause.

Gleich nebendran draengt sich uns die Loesung fuer aehnliche Zwischenfaelle auf.

Nach mehrfachen Anlaeufen legen wir das Ziel unserer Reise fest.

Als uns nur noch 1000m Luftlinie von unserem Hotel trennen, sind es nur noch 50min und ca 42km Strecke, die vor uns liegen. Prima.

Dafuer werden wir mit einer tollen Unterkunft belohnt. Bei einem Auto wuerde man sagen: „Der ist noch im Originalzustand!“ Es gibt Tueren mit Klinken und echten Schluesseln. Und im Bad liegt vegetarische Seife.

Das muss ich erst mal verdauen. Gute Nacht.

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VonVader

2 Gedanken zu „Purple Disco Machine vs Purple Rain“
  1. Wie toll ihr uns informiert — wie Stephan schreibt , ist ein Traum !!
    Wir haben uns gefreut , gelacht , und sind begeistert, wie ihr ne tolle Tour habt !!
    Weiterhin gute Fahrt !!!
    Lg

  2. Update von zu Hause: Wir haben heute erfahren, dass Len sich am Wochenende in einem mehrstündigen oralen Nahkampf möglicherweise bei seiner Kampfesgegnerin mit Corona angesteckt hat. Sofort nachdem er es erfahren hat, zückt er die zusammengeknüllte, 10 Tage alte Maske aus seiner Hosentasche hervor und zieht sie auf, um uns 2 Verbliebene zu schützen. Seitdem sind wir wieder gemeinsam einsam zu Hause unterwegs, rufen uns Absprachen, wer wie wann nun die Küche benutzen kann, aus der Ferne zu. Die Mundbewegungen durchs laute Sprechen lassen die Krümel von der Maske auf den Boden rieseln. Wenigstens sind die Hosentaschen jetzt wieder sauber.
    Nun schieben wir wieder regelmäßig die Teststäbchen in die Nase, bis unsere Augen tränen. Erst den Schleim verrühren, dann das Röhrchen schütteln. Routiniert führen wir diese Übungen nun wieder durch.

    #gemeinsameinsam#oralernahkampf#kissmebaby#erstrührendannschütteln#

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